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Der unwissende Lehrmeister

Der unwissende Lehrmeister

Der unwissende Lehrmeister

Ernte 3000 Jahre

Ernte 3000 Jahre
 

Jordane Maurs

Jordane Maurs (*1979) studierte Literatur und Ethnologie an der Universität Paris 7 Denis Diderot. Für ihre Doktorarbeit über die Poesie der Tuareg arbeitete sie ein Jahr lang in Mali. Daraus ist der Film N’tamat (2007) hervorgegangen, der von der Lyrik der Tuareg handelt. Auch machte Maurs in dieser Zeit nachhaltige Erfahrungen mit der Rolle der Frankophonie in Afrika, die sie später in ihrem ersten Langfilm Der unwissende Lehrmeister – Kommentare (2011) verarbeitet hat. Neben ihrer Arbeit als Filmemacherin arbeitet Jordane Maurs als Dramaturgin und Workshop-Leiterin und sie ist Mitglied des Kollektivs, welches das Filmfestival „globale“ in Berlin organisiert.

 

Mittwoch, 13. Juni 2012

19.00
Le maître ignorant – commentaires (Der unwissende Lehrmeister – Kommentare)
Jordane Maurs, HD Video, D 2011, 71’, OmU 

21.15
Mirt sost shi amit (Ernte 3000 Jahre)
Haile Gerima, 16mm, Äthiopien 1975, 138’, OmU

Der unwissende Lehrmeister - Kommentare ist eine Parabel über Autorität, Bildung und Spracherwerb, inspiriert von dem gleichnamigen Essay des Philosophen Jacques Rancière. Auf verschiedenen Bild- und Erzählebenen verwebt Jordane Maurs Beobachtungen an einer bilingualen Berliner Schule mit Gesprächen, die sie mit frankophonen Afrikanern über Sprache, Körper und Macht geführt hat. In den Assoziationen und Gesten überlappen sich schulischer und kolonialer Kontext, Unterricht, Unterweisung und Unterwerfung. Die latente Gewalt wird spürbar, die beim Erwerb einer Sprache stets im Spiel ist

Francophonie
Das französische Empire reagierte auf die Niederlage im deutsch-französischen Krieg mit einem starken Patriotismus. 1881 wurde in den Kolonien, aber auch in Frankreich selbst, die öffentliche Schulpflicht eingesetzt und gleichzeitig Hochfranzösisch als einzig legitimer Dialekt durchgesetzt. Die Nationalsprache sollte zu einer Weltsprache werden. Institutionen wie die „Organisation Internationale de la Francophonie“ folgen auch heute noch dieser Idee, die wie selbstverständlich vom Segen einer europäischen Vorherrschaft in Afrika ausgeht.

Jordane Maurs’ Interviewpartner_innen stammen aus Kongo-Brazzaville, Benin und dem Senegal. Sie sprechen über ihre einschneidenden Erfahrungen in einem frankophonen Schulsystem, das sich mit offener Aggression gegen die vorhandenen Lokalsprachen wendet. Spracherziehung wird als körperliche und psychologische Kolonisierung erkennbar. Sie wirkt sich auch auf nicht-sprachliche Aspekte der Kindheitsentwicklung aus und tendiert dazu, individuelle afrikanische Identitäten mit einem Stigma zu belegen. 

System Schule
Diese von einem kolonialen Kontext geprägten Gespräche setzt der Film in Beziehung zu Beobachtungen aus dem Französisch-Unterricht an einer bilingualen Grundschule in Berlin. Obwohl die Unterrichtssituation zunächst einen vorbildlichen Eindruck macht – eine kleine Klasse, eine verständnisvolle, aufmerksame Lehrerin – wird auch hier die tief greifende Inkorporierung eines Erziehungsstils sichtbar, der auf einer Autorität basiert, die nicht hinterfragt werden darf. Die Schüler_innen lernen, dass Erfolg im Unterricht einen bestimmten Umgang mit der Macht erfordert. Die Pausenspiele auf dem Schulhof und besonders ein Rollenspiel zwischen einem Mädchen und einem Jungen machen sichtbar, was unterhalb des Unterrichtsstoffs so alles miterlernt wird.

Metadiskurs
Seinen Titel entlehnt der Film dem Buch "Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über intellektuelle Emanzipation" des zeitgenössischen französischen Philosophen Jacques Rancière. Regelmäßige Zitate stellen die Bilder und Dialoge in den breiteren Kontext des Systems Schule, in dem das Primat des 'lebenslangen Lernens' die Arbeitswelt prägt und das individuelle Leben auf bestimmte Lerninhalte ausrichtet. Die Textzitate strukturieren den Fortgang der durchaus argumentativen Filmnarration. Sie lassen sich aber auch als kritische Auseinandersetzung mit einem Metadiskurs lesen, also wiederum mit der Autorität der Stimme Rancières für das eigene Argument. Die autoritätskritische Haltung des Textes greift somit über auf die dokumentarische Filmerzählung und ihr Verhältnis zum Zuschauer. In dem späteren Text "Der emanzipierte Zuschauer" hat Rancière selbst seinen Gedankengang in dieser Richtung weiterentwickelt. 


Carte Blanche: Mirt sost shi amit (Ernte 3000 Jahre)

Als Carte Blanche hat Jordane Maurs aus dem Archiv des Arsenal Mirt sost shi amit von Haile Gerima ausgesucht. Der Film wurde mit einem äthiopisch-amerikanischen Team während der Revolution gegen das Regime von Haile Selassie gedreht. Er war Teil einer gewaltigen Selbstbefreiung des afrikanischen Kinos und gehört zu den Meisterwerken des „Dritten Kinos“. Gerima verbindet hier seine radikale, an Frantz Fanon geschulte Kritik mit einer eigenwillig virtuosen Bildsprache, welche die bis zum Zerreißen gespannte gesellschaftliche Situation geradezu spürbar macht.

Mirt sost shi amit wurde 1976 im „6. Internationalen Forum des jungen Films“ gezeigt. Auszüge aus dem damaligen Katalog:

„Der junge Äthiopier Haile Gerima gehört zu den ersten Film-Pionieren seines Landes. Hauptfigur seines Films Ernte: 3000 Jahre ist ein exzentrischer Großgrundbesitzer, der seine Landarbeiter und Angestellten einem Regime sadistischer Grausamkeit unterwirft. Ihm gegenüber steht die Gestalt eines Bauern, dem sein Land weggenommen wurde, der die Bevölkerung über ihre wahre Lage aufklären möchte und deswegen als 'Irrer' bezeichnet wird. Gerima stellt in seinem Film das gegenwärtige Leiden der äthiopischen Bevölkerung als das letzte Glied in einer Kette dreitausendjähriger Unterdrückung dar.“

Haile Gerima im Gespräch über Mirt sost shi amit:

Über die Figur des „Narren“, der die Wahrheit spricht:

 „Diese Figur haben offenbar alle Länder der Dritten Welt gemeinsam. Sie kommt auch in vielen Filmen vor. In den meisten repressiven, wirtschaftlich und politisch noch feudalen Gesellschaften stößt man auf gewisse Leute, die deshalb als irrsinnig oder verrückt gelten, weil sie jederzeit die Wahrheit sagen. In meinem Geburtsort, wo ich auch den Film gedreht habe, kenne ich zehn, elf Menschen dieser Art, die als Produkt einer repressiven Gesellschaft gelten können, die durch ihr Verhalten zeigen, was eine wirtschaftliche, soziale und politische Unterdrückung dem Menschen antut. Im Film habe ich verschiedene Aspekte dieses mir bekannten Menschentyps kombiniert.“

Über den Zeitbezug des Films:

„Es gibt keine Zukunft ohne Vergangenheit, keine Gegenwart ohne die Vergangenheit. Jede Entwicklung geht auf irgendwelche Ursprünge zurück. Nur in wenigen Filmen wird wirklich an die Wurzel der Probleme herangegangen. Man nimmt ein heutiges Ich, ein heutiges Du und versucht das, was mit einem geschieht, psychologisch zu analysieren. Und man erfindet idiotische Philosophien, um das alles zu begründen. Dabei ist es für jede Generation unabdingbar, den historischen Prozess einer Gesellschaft zu begreifen — also die Bewegung und das Tempo eines Systems. Und mir kommt es darauf an, die elenden Lebensbedingungen des äthiopischen Volkes festzuhalten. Dabei will ich aber nicht, daß mein Volk nur auf die Vergangenheit zurückschaut, sondern überlegt, wie der Weg vom Jetzt in die Zukunft verlaufen soll. Ich sage: Seit 3000 Jahren benutzen wir die gleichen Werkzeuge, die gleichen Küchengeräte und Produktionsmittel. Wir benötigen also eine gute Technologie, obwohl nicht jede Industrialisierung schon eine echte Entwicklung auslöst. Zur wichtigen Technologie gehören für uns Lastwagen und Traktoren, mit denen wir unser Land bestellen und für unser Volk mehr erzeugen können. Ich frage mich, warum es bei uns immer noch Lebensmittelmangel, ja sogar Hungersnöte gibt. Sind wir faul, haben wir zu wenig gearbeitet? Warum verfügen wir nicht über die Vorteile der Technologie? Weil wir in der Vergangenheit von verschiedenen Ländern ausgebeutet wurden, die in Europa auf eine viel kürzere Geschichte zurückblicken als wir in unserem Land? Ich frage mich also immer wieder, wie der Weg jetzt weitergeht. Und eben deshalb müssen wir über die Vergangenheit Bescheid wissen, weil wir nur so die Gegenwart verstehen und unser zukünftiges Ziel erkennen können.“